Günter Wiemann, Ein alter Beruf ist am Ende. Stellmacher-Lehrlinge aus Wolfenbüttel sind die Zeitzeugen, Druckwerkstatt Hannover, Braunschweig, 15. Mai 2015, Pb., 110 S.
Die Erfindung des Rades kann als eine der ältesten technischen Entwicklungen der Menschheit angesehen werden. Die Geschichtsschreibung weist nach, dass bereits in den sumerischen Kulturen vor rund 4000 v. Chr. Menschen das Rad als Transportmittel und Kulturgegenstand kannten und benutzten. Man nimmt an, dass das Rad aus der Praxis entstanden ist, schwere Materialien, wie etwa Steine, Figuren und Gebrauchsgegenstände mit Schlitten, Baumstämmen oder Walzen zu bewegen. Mit dem Rad etwa konnten die riesigen Kultbauten, wie die Pyramiden in Ägypten, oder in Stonehenge leichter erstellt werden. Die ersten Räder, die benutzt wurden, dürften aus dicken Baumstämmen geschnittene Scheiben gewesen sein. Der Erfindungsgeist der Stellmacher oder Wagner war es dann, der die schweren Radscheiben durch Einkerbungen und später durch Speichen leichter und haltbarer machte. Das Rad, wie wir es heute noch kennen, war entstanden.
Wir sind bei einem Beruf, der weitgehend vergangen ist und höchstens noch als Hobby oder in Nischensparten als spezialisierte Tätigkeit ausgeübt wird: Der Beruf des Stellmachers, wie er überwiegend in Norddeutschland und des Wagners, wie er in Süddeutschland bezeichnet wird, ist ausgestorben. Auf you tube wird eine Filmsequenz (1987) gezeigt, in der „Wagner Henninger“ als der letzte seines Standes sein Handwerk vorführt und seine Lebens- und Berufsgeschichte erzählt (http://www.youtube.com/watch?v=Lhv_cmhTUO). Gelingt es nämlich, Zeitzeugen über ihre Berufserfahrungen zum Reden zu bringen, wird das lebendig, was als „oral history“ Erinnerung bewirkt. Wird dazu noch Berufsforschung betrieben, vermitteln sich Eindrücke und Ahnungen darüber, wie wir geworden sind, was wir sind.
Der 93jährige Berufspädagoge Günter Wiemann ist so einer, der Berufsgeschichte erzählen und aufschreiben kann. Als gelernter Tischler, Erziehungswissenschaftler an der Universität Hannover und Präsident des niedersächsischen Landesinstituts für Lehrerfortbildung und Unterrichtsforschung (jetzt: NLQ) lehrte und vermittelte er während seiner beruflichen Tätigkeiten das, was als Bildungs- und Entwicklungsherausforderung verstanden wird: Bildung mit Kopf, Herz und Hand (Pestalozzi), und er setzt sich dafür ein, dass die sich im abendländischen Bildungsbewusstsein festgesetzte Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis im pädagogischen Denken und Tun verändert, weg von der „eigentlichen“ Bildung, der ein größerer geistiger Wert zugesprochen wird, hin zu einem ganzheitlichen Be-Greifen im echten Sinn eines lebensweltlichen, emanzipatorischen Prozesses der Menschwerdung ( Hans-Jürgen von Wensierski / Jüte-Sophia Sigeneger / Andreas Petrik, Hrsg., Technische Bildung, 2015, http://www.socialnet.de/rezensionen/18611.php ). Wiemann legt eine Untersuchung vor, in der er seine Lebensgeschichte als „Tischler“ und Berufspädagoge verwebt mit Berichten von Zeitzeugen, die als ehemalige Stellmacher-Lehrlinge aus der Region Wolfenbüttel/Braunschweig zu Wort kommen. Es ist ein Bericht, der bestimmt ist von der Empathie des Berufsschullehrers mit seinen Stellmacher-Schülern und dem sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Engagement der noch lebenden Beteiligten. Es sind Erinnerungen, die sowohl bestimmt sind von Wahrnehmungslücken und Überhöhungen, als auch von für gegenwärtiges und zukünftiges, berufliches und handwerkliches Handeln wichtigen bedeutsamen Analysen und Bestandsaufnahmen. Die Erzählungen Wiemanns vermittelndie beruflichen Situationen der Stellmacher, Schmiede, Sattler und anderer bodenständiger Handwerker im Dorf, deren Werkstattausstattungen, Werkstücke, die sozialen Bedingungen der Stellmacherlehrlinge, der Bedeutung der Berufsschule und die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandlungsprozesse in der Zeit der Industrialisierung: „Lange Arbeitszeiten waren selbstverständlich, zwar gab es gesetzlich eine 48-Stundenwoche, aber kein Lehrling hätte es gewagt, auch diese einzufordern“.
Nach der achtklassigen Volksschule ging es für die jungen Menschen danach, eine Lehrstelle zu bekommen. Der ehemalige Stellmacherlehrling Helmut Cichos erzählt: „Meine Mutter bemühte sich um eine Lehrstelle bei dem Obermeister der Stellmacher-Innung Hermann Kraus, in der Töpferstraße der Stadt Wolfenbüttel. Meine Mutter wollte mein Abschlusszeugnis der Volksschule vorweisen. Der Meister schüttelte sein graues Haupt und befühlte die Muskeln meiner Oberarme, er war offenbar zufrieden und siehe da, aus mir wurde ein Stellmacher-Lehrling“. Der Berufsschullehrer und Berufsdidaktiker Günter Wiemann interviewt in seinem 110-seitigen Bericht nicht nur lebende Zeitzeugen aus dem Stellmacherhandwerk, zieht dabei nicht nur zahlreiche historische Quellenmaterialien heran, sondern analysiert auch die Entwicklung der Handwerkssparte und der damit verwandten Berufe. So lesen wir, dass die Volkszählung von 1925 für das ganze Deutsche Reich rund 37.000 selbständige Stellmacherbetriebe auswies, in denen mehr als 15.000 Gesellen und 17.000 Lehrlinge tätig waren, während die Statistik Mitte der 1970er Jahre noch drei Lehrlinge nannte. Die Erzählungen der noch lebenden ehemaligen Stellmacherlehrlinge und späteren Meister und in anderen Berufen Tätigen, wie auch die Auswertungen von Nachlässen von bereits Verstorbenen durch Günter Wiemann vermitteln ein Oral-History der Geschichte eines ausgestorbenen Berufs.
Dass es zu dieser Geschichtsarbeit kam, liegt ohne Zweifel an den wachen, engagierten, sozial- und geschichtsbewussten Einstellungen von Günter Wiemann. Bereits als junger Berufsschullehrer Anfang der 1950er Jahre war sich der Berufspädagoge bewusst, dass die Werte, die menschliche Entwicklung ermöglichen und die Aussichten auf ein gutes, gelingendes Leben befördern, nämlich dass Lernen und Arbeiten zusammen gedacht und getan werden müssen. So begann er bereits früh damit, seinen Schülerinnen und Schülern in der Berufsschule den Blick über den „eigenen Gartenzaun“ anzubieten; etwa durch Kontakte und Begegnungen mit jungen Menschen aus dem Ausland. Als damals engagierter Mitarbeiter beim Internationalen Arbeitskreis Sonnenberg im Harz (http://www.sonnenberg-international.de/) führte er mit seinen Schülerinnen und Schülern Begegnungsseminare mit jungen Handwerkern aus Schweden und anderen europäischen Ländern durch und organisierte Klassenfahrten. Zahlreiche Veröffentlichungen darüber sind entstanden; es haben sich Freundschaften gebildet; und es ist zu einer Reihe von Forschungsprojekten über die europäische Arbeiterbildung gekommen.
Von besonderem geschichtlichen Interesse dürften dabei die Erzählungen und Dokumentationen sein, die ehemalige Stellmacherlehrlinge beigesteuert haben, bzw. von ihren Nachkommen zur Verfügung gestellt wurden; etwa, wenn der Stellmachermeister Heinz Homann aus Dettum 1998 feststellt: „Ich war König und Sklave zugleich“; wenn Alfred Berkefeld über die Anfertigung seines „Meisterstücks“, einen Ackerwagen, informiert, oder wenn die Braunschweiger Zeitung am 14. 9. 2007 über die Geschichte der Wagen- und Karosseriefabrik Wenzel Bouse in Wolfenbüttel berichtet. Die Wolfenbütteler Berufsschulaktivitäten strahlten sogar bis in die USA aus; denn die Tochter des bekannten und erfindungsreichen Architekten und Möbelbauers Alfred Grossmann (er erfand und produzierte in der Werkstatt des Stellmachermeisters Kurt Ecklebe in den ersten Nachkriegsjahren den „Vielzwecktisch“, der für die Kleinraumwohnungen jener Zeit äußerst praktisch und begehrt war). Grossmann beabsichtigte, mit seiner Familie nach Kanada auszuwandern und motivierte seine Tochter Klara, das Tischlerhandwerk zu lernen. Sie besuchte die Wolfenbütteler Berufsschule. Später in Kanada arbeitete Klara in einer Textilfabrik und als Sekretärin. Auf einer Schiffsreise nach Deutschland lernte sie Heinz Sauer kennen. Sie heirateten und wanderten in die USA aus. Ihr Mann studierte Ingenieurwissenschaften, drei Kinder wurden geboren, und Klara erwarb im Abendstudium akademische Grade für Städteplanung. Als engagierte Umweltschützerin wurde sie bald als „Executive Director“ des 1997 gegründeten „Scenic Hudson“ eingesetzt. Die Initiative hat sich als Ziel gesetzt, „den Hudson-Fluss als landschaftliche, ökologische und geschichtliche Ressource zu schützen und zu verbessern“. Klar, dass Günter Wiemann bei seinen Recherchen über den Stellmacherberuf in seiner Heimat seine ehemalige Schülerin Klara Sauer ausfindig machte und bewirkte, dass auch sie einen Beitrag in seinem Buch leistete.
Fazit
Günter Wiemanns Arbeit „Ein alter Beruf ist am Ende“ ist kein Zufallsprodukt; vor allem seine Bemühungen, geschichtliche Entwicklungen nicht der Vergessenheit anheim fallen zu lassen, sondern die Schätze zu heben und Erinnerung als orale und skriptorale Historie aufzubewahren, haben mittlerweile regalbreite Schriften und Bücher entstehen lassen: „Nie wieder 1933“, „Zwischen Kriegsende und Währungsreform“, „Nachkriegsjahre – Wirtschaftswunder ‚neue‘ Organisation“, Moorhütte – 200 Jahre Ziegelbrennen“, „Kurt Gellert: Ein Bauernführer gegen Hitler“, und zahlreiche weitere Werke. Seine Arbeit über den ausgestorbenen Beruf des Stellmachers oder Wagners und vor allem über die Stellmacherlehrlinge schließt er mit dem Satz: „Ich bin inzwischen 93 Jahre alt geworden. Ich bin längst kein Chef mehr, aber immer noch Lehrling!“. Das zeigt seine lebendige, neugierige und kreative Art, die in der Schrift zum Ausdruck kommt.
Günter Wiemanns Lehrling: Dr. Jos Schnurer, Hildesheim
Lesen Sie hier den Vortrag von Prof. Dr. Günter Wiemann zum Thema „Der Intellektuelle und der Andere“: