70 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

„Gefordert ist, jeden Tag neu mit Mut und Entschlossenheit unsere Träume in die Realität umzusetzen“, so drückte 1998, zum 50. Jahrestages der Proklamation der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der damalige Generalsekretär der UNESCO, der Spanier Federico Mayor die Hoffnungen aus, die von dieser Weltethik-Deklaration vom 10. Dezember 1948 für die Menschheit ausgehen. Die Welt hat sich seitdem immer interdependenter, entgrenzter und globaler entwickelt! Sie ist zusammengewachsen! Sie bietet Sicherheit, Verlässlichkeit und Partnerschaft! Gleichzeitig aber entstehen Unsicherheiten und Kakophonien, die sich in ego-, ethnozentristischen, nationalistischen, separatistischen, rassistischen und populistischen, lokalen und globalen Denk- und Verhaltensweisen ausdrücken. Es ist deshalb notwendig, danach Ausschau zu halten, wie die Einsicht sich durchsetzen kann, dass die „die Anerkennung der allen Mitglieder der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“. So nämlich wird die Überzeugung ausgedrückt, die 1948 die Vereinten Nationen veranlasst hat, eine „globale Ethik“ zu formulieren und in der ALLGEMEINEN ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE festzulegen[1].

Werfen wir zuerst einen Blick zurück. Die Generalversammlung der 1945 gegründeten Vereinten Nationen bringt in ihrer Charta u. a. zum Ausdruck:

„Wir, die Völker der Vereinten Nationen (sind) fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebenszeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern …, Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben“.

Am 10. Dezember 1948 wurde die Menschenrechtsdeklaration von 48 Staaten, bei acht Enthaltungen (Jugoslawien, Polen, Saudi-Arabien, Sowjetunion, Südafrika, Tschechoslowakei, Ukraine und Weißrussland),  als „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“ beschlossen. In der Präambel wird zum Ausdruck gebracht, dass

  • die Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führen,
  • Menschenrechte der Herrschaft des Rechts bedürfen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung gezwungen wird,
  • es wichtig ist, den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen bei größerer Freiheit für alle Menschen zu fördern.

„Auf unserer Welt herrscht Alarmstufe Rot“,

das ist kein Ausruf eines Verschwörungstheoretikers, auch keine Bußbotschaft eines religiösen Eiferers, sondern stammt aus der Neujahrsansprache 2018 des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, António Guterres. Es ist ein Aufruf, dass die Menschen endlich begreifen sollten, dass Frieden (eigentlich) der natürlichste Zustand im individuellen und kollektiven Dasein der Menschheit, und Unfrieden das größte, menschenunwürdige Übel ist. Es ist eine Warnung, die Menschheit vor den Geiseln des Krieges, des Unrechts, von Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit zu bewahren. Die Frage, ob der Mensch qua Menschwerdung ein friedfertiges und duldsames, oder aggressives, feindseliges Lebewesen ist, bestimmt den philosophischen und anthropologischen Diskurs seitdem Menschen in Gemeinschaften zusammen leben. War es in der evolutionären Entwicklung anfangs die Gruppe, in der, hierarchisch oder einvernehmlich, Regelungen und Ordnungssysteme entstanden sind, werden spätestens seit der Antike der Polis die drei klassischen Definitionselemente – Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt – zugeschrieben. Ein neues Friedensbewusstsein wird notwendig, wo souveräne Staaten und Nationen sich nicht mehr abgrenzen (können), sondern durch grenzüberschreitende und Grenzen auflösende, globalisierte Entwicklungen sich öffnen hin zu einer „Einen Welt“. In dieser Situation braucht es ein neues, globales Bewusstsein, dass die Menschheit in ihrer Vielfalt eine Einheit darstellt. Der „Weltstaat“ und der „Weltbürger“ sind gefordert[2].

Ist die UNO ein Weltstaat?

Diese Frage wird immer wieder gestellt; und die Antworten darauf sind eher skeptisch bis negativ. Denn die Vereinten Nationen haben in ihrer Charta diesen Anspruch selbst verweigert, wenn es in Artikel 2 (7) heißt: „Aus dieser Charta kenn eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund dieser Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden“. Der „Weltreporter und internationale Beobachter und Berichterstatter Marc Engelhardt analysiert und informiert seit mehr als einem Jahrzehnt über die Aktivitäten der Vereinten Nationen in der New Yorker  UNO-Zentrale und begleitet die zahlreichen, internationalen Projekte, wie z.B. die Blauhelmeinsätze im Südsudan und in anderen Krisen- und Kriegsgebieten; und er setzt sich auseinander mit den bürokratischen und politischen Strukturen zur Armuts- und Seuchenbekämpfung und anderen Aktivitäten. Er schreibt keine wissenschaftliche Analyse und Bestandsaufnahme, sondern er erzählt von seinen Erfahrungen. Er lässt so die Leser teilhaben an den Zu- und Unzulänglichkeiten einer institutionalisierten, gebremsten Arbeit der Vereinten Nationen. Den Dilemmata stellt er aber auch Hoffnungen gegenüber, wie es gelingen könnte, mit Hilfe der Vereinten Nationen eine gerechte, friedliche und humane Weltordnung zu schaffen. Kritik und Vision ließe sich sein Bericht über die Lage der Welt titeln, wenn er anhand von zahlreichen konkreten Beispielen die Frage beantwortet: „Warum wir eine starke UNO brauchen“[3].

Human Rights Watch

Die Visionen, dass es gelingen möge, die Menschheit von einer Kultur des Krieges und der Gewalt hin zu einer Kultur des Friedens und der Solidarität zu bringen, braucht ein aktives, aufgeklärtes Bewusstsein. Und es ist notwendig zu begreifen, dass die Menschheit ohne die Durchsetzung und Einhaltung der Menschenrechte keine humane Zukunft haben kann. Das grundsätzliche Problem bei der Durchsetzung der Anerkennung und Verwirklichung der Menschenrechte im lokalen und globalen Zusammenleben der Menschen besteht darin, dass die in der Deklaration aufgeführten Menschenrechte und Grundfreiheiten der Menschen im konkreten, gesellschaftlichen Vollzug als Rechts-, ethische Idee und völkerrechtlicher Appell formuliert sind und Menschenrechtsverletzungen nur in einem engen Rahmen geahndet werden können. Es gibt keine „Menschenrechtspolizei“! Immerhin: Im Juli 1998 haben 120 Staaten der Erde in Rom die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs mit Sitz in Den Haag beschlossen. Der iStGH soll über Verbrechen gegen Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen von Individuen, nicht von Staaten richten. Diese Festlegung ist ein Manko der an sich positiven Initiative, über Menschenfeindlichkeit und Menschenrechtsverletzungen zu urteilen. Ein Hemmschuh für die mögliche Wirkungskraft der internationalen Rechtsinstitution besteht auch darin, dass eine ganze Reihe von Ländern bisher dem Vertrag nicht beigetreten sind und den Internationalen Strafgerichtshof aus egoistischen, nationalistischen oder rechtsargumentativen Gründen ablehnen, wie z. B.: USA, China, Indien, Irak, Iran, Israel, Kuba, Nordkorea, Pakistan, Russland, Syrien, Saudi-Arabien, Sudan und die Türkei. Beobachter vermuten, dass die Kritik am iStGH von denen komme, die ihn zu fürchten hätten. Neben dieser UN-offiziellen Etablierung eines Rechtsinstruments zur Verfolgung und Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen haben sich im lokalen und globalen Diskurs zur Verteidigung der Menschenrechte insbesondere nichtstaatliche Bürgerrechts- und Menschenrechtsorganisationen entwickelt, die in den einzelnen Ländern und Gesellschaften gewissermaßen als Mahner und Wächter für Menschenrechte tätig sind. Die NGOs haben sich im Dachverband „Association Européenne pour la défense des Droits de l´Homme (AEDH)“ mit Sitz in Paris zusammengeschlossen. Die bereits 1922 gegründete Initiative trägt mit ihren rund 180 weltweit tätigen Mitgliedsorganisationen dazu bei (in Deutschland, die Berliner Internationale Liga für Menschenrechte e.V.), „durch politische Einflussnahme – wenn nötig mit Druck – auf Regierungen, Parteien, Wirtschaft, Kirche oder Verbände die Verwirklichung und Weiterentwicklung der Menschenrechte gemeinsam mit anderen Vereinigungen und als Teil der sozialen Bewegungen voranzutreiben sowie Verstöße gegen diese abzuwehren“. Der Generalsekretär des Stuttgarter Instituts für Auslandsbeziehungen e.V. (ifa) und Herausgeber der Zeitschrift für internationale Perspektiven: Kulturaustausch, Ronald Grätz, und der Berliner Kulturwissenschaftler, Autor und Publizist Hans-Joachim Neubauer geben den Gesprächsband „Human Rights Watch. Einsatz für die Menschenrechte“ heraus. Die Vereinten Nationen haben mit der Etablierung des „United Nations High Commissioner for Human Rights“ einen wichtigen Anker gesetzt. Human Rights Watch (HRW) ist eine bedeutsame, US-amerikanische, weltweit wirkende Menschenrechtsorganisation mit Sitz in New York. Sie wurde 1978 im Prozess der Verhandlungen zur Beendigung des Kalten Krieges der Schlussakte von Helsinki gegründet und hat sich mittlerweile zu einer bedeutenden Friedens- und Menschenrechtsorganisation entwickelt. Rund 400 hauptamtliche und weitere ehrenamtliche Engagierte sind in mehr als 90 Ländern tätig, um in Zusammenarbeit mit lokalen NGOs und Regierungen den Finger in die Wunden der Menschenrechtsverletzungen zu legen und durch Mahnungen, Öffentlichmachung und Vereinbarungen auf Diskriminierung, Korruption, Folter, Todesstrafe und andere Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen und Menschenrechte und Gerechtigkeit einzufordern. Durch die Berichterstattung und Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen ist HRW zu einem unbequemen Fingerzeiger für Individuen und Regierungen geworden, die das Recht auf Menschenwürde und Freiheit missachten, und zu einem Hoffnungssignal für deren Durchsetzung[4].

Ist der Mensch gut?

Die Philosophen der Welt haben zu allen Zeiten darüber nachgedacht haben, ob der Mensch des Menschen Freund oder des Menschen Wolf sei, und die Hoffnungen auf ein „gutes Leben“ für alle Menschen ihr Dasein bestimmen. Die Auffassungen darüber sind – bis heute – so verschieden wie die Menschen. Die Suche nach einen gemeinsamen Verständnis und einer allgemeingültigen Auffassung von einem friedlichen, gleichberechtigten und gerechten Zusammenleben der Menschen überall in der Einen Welt hält an. Dem Optimismus, dass dies eines Tages gelingen möge, steht der Jahrtausende alte Pessimismus und Fatalismus immer wieder im Weg: „Wehe dir, du elendes Geschlecht der Sterblichen, du unseliges! Aus solchem Hader, solchen Seufzern seid ihr entsprossen!“[5].

Allgemeingültig und human

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 allerdings ist eher bestimmt von der Überzeugung, die auch in der Verfassung der UNESCO vom 16. November 1945 zum Ausdruck kommt: „Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, (müssen) auch die Bollwerke des Friedens im Geist der Menschen errichtet werden“[6]. Weil aber friedliches Denken und Handeln scheinbar den Menschen nicht in die Gene gepflanzt, noch in die Wiege gelegt worden ist, der anthrôpos, der Mensch, aber doch ein zôon logon echon, ein vernunft- und sprachbegabtes Wesen ist, wie dies bereits Aristoteles erkannt hat[7], bedarf es eines normativen, theoretischen Rahmens, ein von allen Individuen und Gemeinschaften anerkanntes und allgemeinverbindliches Regelwerk, wie Frieden in der Welt (endlich) geschaffen werden kann. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist Bestandteil, ja Grundlage der Übereinkunft, die von den Völkern der Welt durch die Gründung der Vereinten Nationen und den Zielen der Weltgemeinschaft vereinbart wurden, nämlich „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen…, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts…[8]. Die Gültigkeit der in der Allgemeinen Erklärung formulierten Menschenrechte wird also von allen Mitgliedern der Vereinten Nationen – aus den 51 Gründungsstaaten 1945 sind mittlerweile 192 Länder geworden – qua Mitgliedschaft anerkannt.

Allgemeingültig oder relativ?

Doch schon bald nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat es Meinungsverschiedenheiten darüber gegeben, ob die dort aufgestellten Grundfreiheiten der Menschen universal, also allgemeingültig seien, oder ob bestimmte Rechte relativ zu der Geschichte, der Kultur und der Politik eines Landes gesehen werden müssten. Damit aber sind die Auseinandersetzungen darüber eröffnet, ob, wie der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Butros Butros Ghali (1993) feststellte, die Menschenrechte der kleinste gemeinsame Nenner aller Nationen, oder das „nicht reduzierbare Menschliche“ sei[9]. Obwohl die rund 7000 Teilnehmer der Weltkonferenz über Menschenrechte, darunter Vertreter von 170 Staaten und 800 Nichtregierungs-Organisationen (NGOs), vom 14. bis 25. Juni 1993 in Wien der UNO ins Stammbuch schrieben: „Alle Menschenrechte sind allgemeingültig, unteilbar, bedingen einander und bilden einen Sinnzusammenhang. Die internationale Gemeinschaft muss die Menschenrechte weltweit in fairer und gleicher Weise, auf derselben Basis und mit demselben Nachdruck behandeln“ – enthält die Vereinbarung über die Universalität der Menschenrechte doch einen Pferdefuß. Im Absatz 5 der so genannten „Wiener Erklärung“ heißt es nämlich weiterhin: „Zwar ist die Bedeutung nationaler und regionaler Besonderheiten und unterschiedlicher historischer, kultureller und religiöser Voraussetzungen im Auge zu behalten“; wobei die Teilnehmer dann irgendwie doch die Kurve nehmen, indem sie weiter formulieren, „… aber es ist die Pflicht der Staaten, ohne Rücksicht auf ihr jeweiliges politisches, wirtschaftliches oder kulturelles System alle Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern und zu schützen“[10].

Die Wirklichkeit der Welt

Wir sind also bei der Frage angelangt, wie die theoretische Grundübereinstimmung, dass die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufgestellten Grundfreiheiten der Menschen allgemeingültig sind und universell wirksam sein müssen, in der praktischen, alltäglichen und staatlichen Politik, sowie im gesellschaftlichen Handeln umgesetzt werden kann. Denn Menschenrechtsverletzungen, das zeigen die jährlich erscheinenden UN-offiziellen wie NGO-Berichte, gibt es weltweit zuhauf. Weil es bislang nur selten gelang,  Menschenrechtsverletzungen an den globalen Pranger zu stellen und das zuständige Menschenrechtskomitee wirksam tätig werden zu lassen, soll der 2006 in Genf eingerichtete UN-Menschenrechtsrat, anstelle der bisherigen Menschenrechtskommission, eine neue Ära im Kampf für die Menschenrechte einleiten. Im März 2006 wählte die Generalversammlung der Vereinten Nationen 47 Mitgliedsstaaten, deren VertreterInnen den Menschenrechtsrat bilden. Ob es ein Hemmschuh für die politische Wirksamkeit für die Zukunft ist, dass sich die USA erst gar nicht um eine Mitgliedschaft im MR bemüht haben, wird die praktische Arbeit des Gremiums zeigen. Die Bundesrepublik Deutschland gehört übrigens dem UN-Menschenrechtsrat an. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, die Kanadierin Louise Arbour, jedenfalls setzt sich für ein „Peer review“, eine regelmäßige Überprüfung aller UN-Mitgliedsstaaten zur Menschenrechtssituation in ihren Ländern ein. Entscheidend wird sein, welche Akzeptanz und welche Instrumente zur objektiven Ermittlung der Menschenrechtslage der Menschenrechtsrat erhält. Wenn es so ist, wie etwa Länder aus Asien und Afrika fordern, dass bei der Analyse nur die offiziellen, regierungsamtlichen Berichte der Staaten herangezogen werden können, dürften die Aussagen und Ergebnisse des Rats wenig Gewinn für die Durchsetzung der Menschenrechte in der Welt bringen. Ein weiterer Konfliktbereich ist die Frage, ob, in welcher Form und mit welchen völkerrechtlichen Konsequenzen sich Opfer von Menschenrechtsverletzungen mit einer „Individualbeschwerde“ zu Wort melden können; ebenso sind die Einflussmöglichkeiten von Nichtregierungsorganisationen (NGO) auf die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse des UN-Menschenrechtsrats umstritten. Ein weiteres Problem ist bisher nicht gelöst: Die verschiedenen Gremien und Sonderorganisationen der Vereinten Nationen sind für je spezifische Fragen zur Menschenrechtssituation zuständig, beobachten, überwachen und berichten darüber. Dadurch entstehen konkurrierende und sich gegenseitig behindernde Aktivitäten. Längst angemahnte Reformen der Arbeit der Vereinten Nationen („unified system“) würden die Effektivität und Durchsetzungskraft für eine Verwirklichung der Menschenrechte erhöhen, wie auch die „geringe Berichtsmoral der Staaten“ verbessern[11].

Spezifische Menschenrechtserklärungen – die afrikanische Charta

Die Relativierungen und Infragestellungen der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte hat  dazu geführt, dass sich Länder, Kontinente und Kulturblocks aufgefordert fühlen, eigene Menschenrechtsdeklarationen zu erlassen. Die von der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) 1981 in Nairobi vorgelegte „Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker“ will in besonderem Maße auf die kulturellen Besonderheiten und die existenziellen Bedingungen auf dem afrikanischen Kontinent hinweisen und eine Solidarität der Völker Afrikas einfordern. Die im März 2001 von allen (53) afrikanischen Staaten (ausgenommen Marokko, wegen der Aufnahme der Demokratisch-Arabischen Republik Sahara in die Union) gegründete Nachfolger-Organisation „Afrikanische Union“ formuliert allerdings in ihren Zielen sowohl „Stärkung der internationalen Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, als auch „Förderung und Schutz der Menschen- und Völkerrechte in in Übereinstimmung mit der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker und anderer relevanter Dokumente“.

Die islamische Charta

Die Mitgliedsstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz hat 1990 die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ beschlossen. Darin wird die Schari`a als die alleinige, allgemeingültige Grundlage von „Menschenrechten“ ausgewiesen. Weil diese Position jedoch in der Weltgemeinschaft äußerst umstritten war, hat der Rat der Liga der arabischen Staaten am 15. September 1994 die „Arabische Charta der Menschenrechte“ verkündet, die sich in stärkerem Maße auf die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Bestimmungen der Internationalen Pakte über bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle  Rechte, jedoch ebenso auf die Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam beruft. In Artikel 1 der Charta wird proklamiert, dass alle Völker das Recht auf Selbstbestimmung und die freie Verfügung über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel haben; ebenso, dass „Rassismus, Zionismus, Besetzung und Fremdherrschaft ( ) eine Herausforderung der Menschenwürde (sind) und ( ) ein grundlegendes Hindernis für die Verwirklichung der grundlegenden Rechte der Völker (bilden): „Alle derartigen Praktiken sind zu verurteilen und nach Kräften zu beseitigen“.

Asiatische Positionen

Zwar gibt es (bisher) keine asiatische Menschenrechtserklärung, doch in der Auseinandersetzung um die Universalität der Menschenrechte werden immer wieder asiatische – konfuzianische, buddhistische, hinduistische oder islamische – Denk- und Wertesysteme in die Diskussion gebracht. Insbesondere die Unterschiede zwischen Individuum und Gemeinschaft im asiatischen Denken führen dazu, dass einige asiatische Länder, allen voran Singapur, Malaysia, China und Indonesien, sich dafür einsetzen, gesonderte geschichtliche und kulturelle Traditionen bei den Forderungen nach Menschenrechten zu berücksichtigen.

Frieden im Geiste der Menschen

Die weltweite Verwirklichung der Menschenrechte kann nicht als relativierte Zielsetzung gelingen, sondern nur, wenn in das Bewusstsein der Menschen gelangt, dass Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, also Menschlichkeit, die kostbarsten Güter der Menschheit sind. Am Beispiel des Friedensbegriffs haben die Teilnehmer des Kongresses „Frieden im Denken der Menschen“, der vom 26. Juni bis 1. Juli 1989 in Yamoussoukro / Elfenbeinküste stattfand, Frieden definiert als Ehrfurcht vor dem Leben, das kostbarste Gut der Menschheit, mehr als das Ende bewaffneter Auseinandersetzung, eine ganz menschliche Verhaltensweise, die tiefverwurzelte Bindung an die Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Solidarität zwischen allen Menschen, eine harmonische Partnerschaft von Mensch und Umwelt[12].

Zukunft ist Gestern, Heute und Morgen

„Es ist etwas schief gegangen, die ganze Welt ist ein rotes Warnlicht, ein Alarmzeichen. Bittere Armut, Umweltkatastrophen, Epidemien und Kriege: Überall leuchten die Signale und mahnen uns, endlich die Zukunftsfragen der Menschheit in Angriff zu nehmen“. Es sind nicht die Kassandrarufe und fatalistischen oder ideologischen Weltuntergangsprophezeiungen, die die Aufmerksamkeit erfordern, dass die Menschen verantwortungsbewusst damit umgehen müssen, dass den Menschen nicht die Erde, sondern der Mensch zur Erde gehört. Es geht vielmehr darum, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie informiert, gebildet und aufgeklärt sein wollen[13]. Eine humane Gegenwartsbewältigung erfordert das Wissen darüber, woher ich komme, wer ich bin, was mein Leben ausmacht und wohin ich gehe! Oder, um es anthropologisch auszudrücken: Ein anzustrebendes gutes, gelingendes Leben ist eingebunden in Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbewusstsein. Dazu ist ein wichtiger Anker unverzichtbar: Der anthrôpos ist ein Individuum, das  Wandel und Veränderung lebt[14] . Wie kann es gelingen, dass sich die ökonomische, ökologische und humane Entwicklung gerechter und menschenwürdiger gestaltet und wir tatsächlich von der vielberufenen EINEN WELT reden und in ihr leben können?  Die gegenwartsbezogenen, zukunftsorientierten und generationenbewussten Herausforderungen sind spätestens seit der im ersten Bericht an den Club of Rome 1971 erfolgten Warnung präsent: Die Grenzen des (ökonomischen) Wachstums sind erreicht, wie auch die seitdem immer wiederkehrenden Prognosen, dass es ein „business as usual“ nicht weiter geben dürfe, sondern dass die Menschheit sich auf eine gegenwartsbezogene, zukunfts- und generationenorientierte tragfähige Entwicklung besinnen müsse. Zum Paradigmenwechsel rufen deshalb seit langem Theoretiker und Praktiker als Weltzustands-Analysten auf: „Die Globalisierung wird nur neu begründet werden können, wenn die Wohlstandsgewinne gerechter verteilt werden“. Es sind die wachstumsorientierten VertreterInnen, wie z. B. der Vorstandsvorsitzende des Hamburger Handels- und Dienstleistungskonzerns  Otto Group, Alexander Birken, die fordern, dass „Wachstum … immer weniger mit einem zunehmenden Verbrauch an Ressourcen verbunden“ werden muss[15]. Und es ist der interdisziplinäre, wissenschaftliche Diskurs, der in zunehmendem Maße dazu auffordert, den protektionistischen, neoliberalen, nationalistischen, ausbeuterischen, fundamentalistischen und populistischen Tendenzen eines autoritären, demokratie- und menschenfeindlichen Kapitalismus zu widerstehen und hinzukommen zu einer „Wertschöpfung des Humanen“[16].

Fazit

70 Jahre dauert im allgemeinen ein Menschenleben (auch wenn die Forschungen am Leben mittlerweile längere Lebenszeiten erwarten lassen). So lässt sich sagen, dass das 70jährige Bestehen der „globalen Ethik“ eine Mehrgenerationen-Herausforderung darstellt und eine fortdauernde universelle Verantwortung fordert.  Die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ hat 1995 alle Menschen zu einem Perspektivenwechsel animiert: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“[17]. Für diesen Perspektivenwechsel ist eine Einigung auf eine globale Ethik unverzichtbar. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist und bleibt dafür der einzige Garant, dass das Menschheitsschiff nicht in den Abgrund gerät. Deshalb dürfen wir die Durchsetzung der Menschenrechte nicht alleine den internationalen Organisationen und den nationalen Regierungen überlassen; vielmehr muss in unsere Köpfe und Herzen gepflanzt werden, schon ganz früh und immerwährend, dass Menschenrechtsverletzungen menschenfeindlich und entwicklungshemmend sind; die Verwirklichung der Menschenrechte jedoch das Menschsein ausmacht. „Trete an jeder Stelle, zu jeder Zeit und bei jeder Gelegenheit dafür ein, dass die Würde des Menschen gewahrt wird“ – dann haben die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte deklarierten Grundfreiheiten eine Chance, uns und die Eine Welt human schöpferisch zu verändern!

Dr. Jos Schnurer
Immelmannstr. 40
31137 Hildesheim (281118)
Jos2@schnurer.de


[1] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48ff

[2] Roland Bernecker / Ronald Grätz, Hrsg., Global Citizenship – Perspektiven einer Weltgemeinschaft, 2017, http://www.socialnet.de/rezensionen/23073.php

[3] Marc Engelhardt, Weltgemeinschaft am Abgrund. Warum wir eine starke UNO brauchen, 2018, http://www.socialnet.de/rezensionen/24143.php

[4] Ronald Grätz / Hans-Joachim Neubauer, Hrsg., Human Rights Watch. Einsatz für eine menschenwürdige Welt, 2016, http://www.socialnet.de/rezensionen/20258.php

[5] Empedokles aus Akragas (ca. 495 – 436 v. Chr., in: Wilhelm Capelle, Hrsg., Die Vorsokratiker, 2008, S. 196

[6] Verfassung der UNESCO vom 16. November 1945; in: Deutsche UNESCO-Kommission, a.a.o., S. 28

[7] Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 47ff

[8] Deutsche UNESCO-Kommission, a.a.o., S. 20

[9] Antoine Bernard, Eins und unteilbar. Die Menschenrechte bilden eine Einheit, und es ist gefährlich, sie aufsplittern zu wollen; in: UNESCO-Kurier 3/1994, S. 16

[10] Ibrahima Fall (damaliger stellv. UNO-Generalsekretär für Menschenrechte und Leiter des UNO-Menschenrechtszentrums in Genf, Generalsekretär der Weltkonferenz über Menschenrechte),  Streitpunkt Universalität; in: UNESCO-Kurier 3/94, S. 6

[11] vgl. dazu auch: Klaus Hüfner, UNESCO und Menschenrechte, Berlin 2008, 156 S.

[12] Deklaration von Yamoussoukro; in: Deutsche UNESCO-Kommission, Internationale Verständigung, Menschenrechte und Frieden als Bildungsziel. Drei Texte der UNESCO, Bonn 1992, S. 39

[13] Jos Schnurer, Die Menschen motivieren, dass sie aufgeklärt und gebildet sein wollen! In: Pädagogische Rundschau, 3/2018, S. 363 – 373

[14] Matthias Horx, Das Buch des Wandels. Wie Menschen Zukunft gestalten, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/9735.php

[15] Alexander Birken, Hrsg., ZukunftsWerte. Verantwortung für die Welt von Morgen, 2018, http://www.socialnet.de/rezensionen/24175.php

[16] Hans Lenk, Human zwischen Öko-Ethik und Ökonomik, 2018, http://www.socialnet.de/rezensionen/23859.php

[17] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (Kurzfassung) – 1995 – zweite, erweit. Ausgabe. Bonn 1997, S. 18