Zeit zum Erinnern – Zeit zum Handeln

„Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ – diese als „globale Ethik“ in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) bezeichnete Auffassung von der Einheit und Gleichheit der Menschen und der Welt hat die Erkenntnis befördert, dass die EINE WELT dort beginnt, wo die Individuen und Gesellschaften leben, und dass dieses Bewusstsein in die Köpfe und Herzen der Menschen gebracht werden muss. Es ist die Geburtsstunde der modernen Universalität und Globalität der Menschheit, und damit im Bildungs- und Erziehungsdiskurs die Anforderung zum Interkulturellen und globalen Lernen.
Der Club of Rome hat bereits 1972 mit dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ darauf aufmerksam gemacht, dass die Menschheit einen Perspektivenwechsel vollziehen müsse, um human überleben zu können. Es sind das Bevölkerungswachstum, die Nahrungsmittelproduktion, die Industrialisierung, die Umweltverschmutzung und die Ausbeutung von Rohstoffen, die den Lebensraum der Menschen auf der Erde gefährden. Die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung hat 1987 aufgefordert, das „Business-as-usual“- Denken einzustellen und das Leben auf „sustainable development“, eine tragfähige Entwicklung einzurichten. Die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ appelliert 1995 an die Menschheit, „umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Und der Essener Kultur- und Erziehungswissenschaftler Max Fuchs zeigt 2019 auf, wie ein gutes Leben in einer wohlgeordneten Gesellschaft für alle Menschen auf der Erde möglich werden kann .
In der Lehreraus- und –fortbildung hat diese Herausforderung zu einem Paradigmenwechsel geführt. Das Fachlernen wurde ergänzt durch die fächerübergreifende Bildungsvermittlung. Interkulturelles Lernen wurde gleichwertiger Bestandteil der schulischen Bildung. Im damaligen niedersächsischen Landesinstitut für Lehrerfortbildung, Lehrerweiterbildung und Unterrichtsentwicklung (NLI, heute: NLQ) wurde das Dezernat IKL eingerichtet. In Konferenzen, Fortbildungskursen und Publikationen wurden Wege aufgezeigt, wie interkulturelles und globales Lernen im schulischen Curriculum und Alltag etabliert werden kann. Mit dem Projekt „Nord-Süd-Partnerschaften“ wurde eine Möglichkeit dafür aufgezeigt: „Nur eine lernende Weltgesellschaft ist in der Lage, die globalen Probleme in der Einen Welt zu lösen“. An niedersächsischen allgemein- und berufsbildenden Schulen entstanden Partnerschaften mit Schulen in afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern. Sechs Beispiele davon wurden dokumentiert, um als Vorzeige-Beispiele anderen Schulen Anregungen für eigene Partnerschaftsaktivitäten anzubieten .
Im Rahmen der institutionalisierten Lehrerfortbildung haben engagierte Lehrerinnen und Lehrer bei einer interkulturellen Tagung 1986 im Internationalen Haus Sonnenberg/Harz den Verein „Initiativen Partnerschaft Dritte Welt“ (IPIII) gegründet, der einige Jahre später als „Initiative Partnerschaft Eine Welt (IP1) umbenannt wurde . Ziel des Vereins ist es, den didaktischen Gedanken „Miteinander – Voneinander lernen“ als lernpraktische interkulturelle Partnerschaftsbildung in die schulischen und außerschulischen Aufklärungs- und Bildungsprozesse zu bringen. In der mehr als 30jährigen Erfahrung haben sich unterschiedliche Formen von interkulturellen Nord-Süd-Partnerschaften entwickelt. Mit einem offenen Blick zurück auf die Anfänge des Interkulturellen Lernens in den 1960er bis 1980er Jahren vor allem in Niedersachsen wird reflektiert, wie die Partnerschaftsprojekte entstanden sind, weiterentwickelt haben oder auch scheiterten.
Zuerst gilt es, an ausgewählte verstorbene Engagierte, einige davon Gründungsmitglieder von IP1, zu erinnern und sie zu würdigen.
Der Berufsschullehrer und Entwicklungshelfer Friedrich-Karl Bohnsack (1946 – 2004) war mit seiner Frau Emmeli mehrere Jahre in Papua-Neuguinea und in Zaire/Kongo tätig. Nach ihrer Rückkehr bauten sie den Verein ProKivu e.V. auf und engagierten sich bei Partnerschafts- und Selbsthilfeprojekten. Fritz begleitete unseren Verein kritisch und kundig.
Von einer gelebten Vision ist die Rede, wenn wir an den Kollegen von der IGS Braunschweig-West, Heinz Friedrich (1930 – 2008) denken. Der Lehrer für Sozialkunde ist während seines ganzen privaten und beruflichen Wirkens dafür eingetreten, dass globale Solidarität nicht nur ein Wort bleibt, sondern gelebte Humanität wird. Er gründete 1979 die Partnerschaft seiner Schule mit der nigrischen Mittelschule CEG I in Ouallam. Mit dem Projekt „Bäume für Sahel“ setzte er sich schon sehr früh mit den globalen Herausforderungen der Klimaveränderung auseinander.
Da ist die Osterholz-Scharmbecker Lehrerin Charlotte Gödicke (1932 – 2013). Ihr jahrzehntelanges Wirken beim Aufbau und der Entwicklung der Nord-Süd-Partnerschaft zwischen dem Landkreis Osterholz und der Region Sagay auf der philippinischen Insel Negros gilt als ein herausragendes Beispiel für internationale Zusammenarbeit von schulischen und außerschulischen Aktivitäten. In einem Memento Mori vom 25. 2. 2013 hat der Vorstand von IP1 festgestellt: „Sie lebte ihren Traum!“.
Das Kunsterzieher-Ehepaar Margit (+ 2001) und Erich Kupfer (1. 5. 1920 – 19. 3. 2018) vom Ubbo-Emmius-Gymnasium in Leer / Ostfriesland hat im Frühjahr 1971das Schulhilfswerk „arabras“ gegründet und in Jahrzehnte langem Engagement zu einer Nord-Süd-Partnerschaft weiterentwickelt. Sie bauten im nordostbrasilianischen Araguacema mehrere Schulen, und zwischen den beiden Orten entstanden Städtepartnerschaften. Für ihre interkulturelle Arbeit wurden Margit und Erich Kupfer mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.
Der Erziehungs- und Migrationswissenschaftler von der Ossietzky Universität in Oldenburg, Prof. Dr. Rolf Meinhardt (1941 – 2010), war unser Türöffner für die Wissenschaft des Interkulturellen Lernens. Als Direktor des Interdisziplinären Zentrums für Bildung und Kommunikation war er für uns ein willkommener, kreativer Dozent und Mitarbeiter bei der Frage nach der Implementierung des curricularen, globalen Lernens.
Der ehemalige Entwicklungshelfer und Publizist Siegfried Pater (1945 – 2015) hat viel dazu beigetragen, dass aus dem „Entwicklungshilfe“-Gedanken solidarische, gleichberechtigte Zusammenarbeit entstand; ganz wesentliche Erkenntnisse beim Interkulturellen Lernen und für eine globale Ethik.
Sigrid Recklebe (1947 – 2015) war die Initiatorin und der Motor der Schulpartnerschaft zwischen ihrer Schule in Bad Pyrmont und von Schulen in der kenianischen Region South Horr. Sie hat mit Lebenskraft, –freude und Kreativität dem Partnerschaftsprojekt ihr Gesicht gegeben. Mit der in ihrer Heimatstadt alljährlich durchgeführten Sport- und Informationsveranstaltung „Run for Help“ bewirkte sie und ihr Team Aufmerksamkeit und Solidarität für i h r Projekt.
Gerhard Stieghorst (1937 – 2012) hat zusammen mit seiner Frau Christiania an der tansanischen Schule in Jambi gearbeitet. Daraus ist das bis heute bestehende Nord-Süd-Partnerschaftsprojekt des Hildesheimer Scharnhorst-Gymnasiums entstanden. Mit ihren Kisuaheli-Sprachkenntnissen und schulpraktischen Erfahrungen hat das Ehepaar Stieghorst für die Vereinsarbeit geleistet und zu einen lebhaften Begegnungsprogramm der Partner beigetragen.
Zu Günter Wiemanns 90. Geburtstag hat der IP1-Vorstand eine Laudatio verfasst, in der es u. a. heißt: „Es gibt Menschen, deren Leben Phantasie, Empathie und Lebenskraft ausdrückt. Es sind Anreger, die mit beiden Beinen auf der Erde stehen – und doch zu den Sternen schauen!“. Der Gründungsinitiator von IP1, geboren 1922, ist am 19. August 2016 gestorben. Ohne ihn gäbe es IP1 nicht, und Interkulturelles Lernen hätte sich so nicht entwickelt!
Den hier exemplarisch genannten, wie auch den weiteren verstorbenen Vereinsmitgliedern und Freunden soll ein Auszug aus dem Gedicht des westafrikanischen Dichters Birago Diop (1906 – 1989) gewidmet werden :

Der Hauch der Ahnen
Erlausche nur geschwind
Die Wesen in den Dingen,
Hör sie im Feuer singen,
Hör sie im Wasser mahnen
Und lausche in den Wind:
Der Seufzer im Gebüsch
Das ist der Hauch der Ahnen.
Die gestorben sind, sind niemals fort,
Sie sind im Schatten der sich erhellt,
Und im Schatten der tiefer ins Dunkel fällt.
Sie sind in dem Baum der dröhnt
Und sind in dem Baum der stöhnt,
Sie sind in dem Wasser das sich ergießt
Wie im Wasser das schlafend die Augen schließt,
Sie sind in der Hütte, sie sind im Boot:
Die Toten sind nicht tot…

IP1 ist eine Beratungs- und Kooperationseinrichtung. Zahlreiche Informationsmaterialien und Erfahrungsberichte liegen vor, wie Nord-Süd-Partnerschaften aufgebaut und weiterentwickelt werden können
IP1 hat von der Deutschen UNESCO-Kommission im Jahr 1999 den „Walter-Mertineit-Preis für Internationale Verständigung“ erhalten. Darauf sind wir stolz! Als wir 1986 den Verein gründeten, war der Gedanke, dass alle Menschen in Einer Welt leben, aufeinander angewiesen sind und in ihrer Vielfalt gleichberechtigt und solidarisch zusammenleben sollen, noch nicht so bewusst wie (hoffentlich) heute. Durch die heutigen, interdependenten, entgrenzenden und globalen Entwicklungen sind Informationen und Wissen über andere Kulturen präsenter und selbstverständlicher. Das sollte zur Folge haben, dass Interkulturelles Lernen als Allgemeinbildung wahrgenommen und praktiziert wird. Wenn wir den Blick zurückwerfen auf die 1960er – 1980er Jahre, so wird man sagen können, dass die damaligen Interkulturellen innerhalb der Schulkollegien eher Exoten und Individualisten waren, etwa in dem Sinne: „Wir haben da Eine/n für Globales!“. Diese Ausnahmesituationen haben(auch) bewirkt, dass die Herausforderungen für Interkulturelles Lernen und für Nord-Süd-Partnerschaftsarbeit meist „delegiert“ wurden und nicht Gesamtbestandteil der schulischen Bildung verstanden wurden. Insbesondere heute, in der sich (wieder) lokale und globale Tendenzen von Ego-, Ethnozentrismen, Rassismen, Nationalismen und Populismen zeigen, kommt es darauf an, das Prinzip des Universalismus beim schulischen Lernen hervorzuheben und einzuüben. Internationale, besonders Nord-Süd-Partnerschaften, bieten hierfür Aktivitäten an.
Mehrere Jahre arbeitete – auch mit Beteiligung von IP1 – eine Expertengruppe aus dem Bundesministerium für Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) und der Kultusminister-Konferenz (KMK) an dem Curriculumvorschlag, wie globale Entwicklung und Kooperation beim schulischen Lernen zusammengebracht werden können. Daraus ist der „Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung“ entstanden . Dieses Handbuch sollte Grundlage für die Lehreraus-, –fortbildung und Schulpraxis sein. Es wäre an der Zeit, die Erfahrungen aus den interkulturellen Kooperationen aufzunehmen und als selbstverständliche, allgemeinbildende, didaktische Herausforderungen für Heute und Morgen zu propagieren .
Internationale Partnerschaften werden immer initiiert und getragen von in einem Schulkollegium oder in einer Einrichtung tätigen Engagierten; nicht selten sind es einzelne Aktive, denen es gelingt, Gleichgesinnte um sich zu scharen und so ein gemeinsames Tun zu bewirken. So ergibt sich, dass Partnerschaftsprojekte sich weiter entwickeln, aber auch beendet werden. Beispielhaft können dabei die Partnerschaft von Hildesheimer Schulen im tansanischen Jambi gelten, die von Christiania Stieghorst engagiert weiter unterstützt wird, und das Bad Pyrmonter Projekt im kenianischen South Horr, bei dem Karl-Heinz Recklebe sich weiter einbringt. Nord-Süd-Partnerschaften bewirken auch, dass sich an einzelnen Orten Netzwerke bilden, wie z. B. in der Region Hildesheim. Beim „Runden Tisch Hildesheim Eine Welt“ (RuTH, www.einewelt-hildesheim.de) treffen sich Initiativen, die als Schulen und Vereine mit Partnern in Tansania kooperieren und seit 2009 alle zwei Jahre die „Hildesheimer Eine Welt Woche“ veranstalten und so eine breite Öffentlichkeit damit vertraut machen, dass eine gerechte Eine Welt möglich ist!
Die derzeit bei IP1 Aktiven hoffen, dass es gelingt, den Nord-Süd-Partnerschaftsgedanken weiter zu tragen und interessierte und engagierte Lehrerinnen, Lehrer, Schülerinnen, Schüler, Schulleitungen und –verwaltungen, Eltern und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen: Interkulturelles, globales Lernen wächst, gedeiht und entwickelt sich bei der lokalen und globalen Partnerschaftsarbeit!

Dr. Jos Schnurer (250420)

Max Fuchs, Das gute Leben in einer wohlgeordneten Gesellschaft. Bildung zwischen Kultur und Politik, www.socialnet.de/rezensionen/26614.php
Nli-Drucksache: 1. Das Arabras-Projekt. Partnerschaft von Leeraner Gymnasien mit Schulen in Brasilien, August 1993, 35 S.; 2. Das Partnerschaftsprojekt Osterholz – Costa Rica. Berufsbildende Schulen arbeiten zusammen, August 1994, 44 S.; 3. „Bäume für Sahel – Bäume für Ouallam“. Integrierte Gesamtschule Braunschweig-West – Niger/Westafrika, August 1994, 41 S.; 4. „Lernen für eine bessere Zukunft“. HS/OS/RS Moormerland – Sukuta Primary School, und Waldschule Schwanewede – Brikama/Gambia, April 1995, 60 S.; 5. Interkulturelles Lernen in der Grundschule: Schroeterschule in Lilienthal – Alfredo Maranon Elementary School in Rizal/Philippinen, Grundschule Bad Pyrmont – Schulen in South Horr/Kenia, Sept. 1995, 45 S.; 6. UNESCO-Projektschulen arbeiten zusammen: Hainberg-Gymnasium Göttingen – Lwandai Secondary School in Mlalo/Tansania, August 1996, 58 S.
IP1, www.initiativen-partnerschaft.de
Janheinz Jahn, Hrsg., Dunkle Stimmen, 1963, S. 15f
z. B.: Multimedia-CD „Ghana erleben“, 2006; sowie: „Tansanische Geschichten und Tingatinga Malerei, 2016
Engagement Global, Hrsg., Globale Entwicklung, 2., aktual. und erweit. Auflage, Bonn 2016, 464 S.
Rolf-Torsten Kramer / Hilke Pallesen, Hrsg., Lehrerhabitus. Theoretische und empirische Beiträge zu einer Praxeologie des Lehrerberufs, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26154.php; Ralf Lutz, Sinnvergessenheit in der Professionalisierung? www.socialnet.de/rezensionen/26075.php